Arsch auf Level 6
Der öffentliche Nahverkehr. Ein Abenteuer für sich, frei nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“. Allein über Transporterlebnisse könnte man ein Buch schreiben. Wir teilten uns nussschalengroße Boote mit 25 anderen Leuten und das Benzin ging mitten auf dem Weg (auf dem Meer!!!) aus… und das nicht nur einmal. Wir saßen auf der Ladefläche von Landcruiser, zusammen mit 18 anderen Leuten und einem Sack voll lebender Krokodile. Wir wurden in Kleinbussen durchgeschüttelt, wobei uns bei jeder Bodenwelle der Rost von der Decke auf den Kopf fiel. Wir wurden stundenlang mit wirklich unsagbar lauter und schrecklicher Musik akustisch missbraucht. Die Fähren-Economy-Klasse, zu der wir uns oft tagelang zählten, erfordert einen meditativen Geisteszustand, durch den man die Geruchs-, Geräusch- und Krabbelgetierkulisse möglichst ausblenden und bestenfalls auch mal Schlaf finden kann. Eine kleine Geschichte…
Während man so Strecke zurücklegt, passieren Kopf und Körper unterschiedliche Level, unabhängig des Transportmittels:
Level 1
Alles ist ok. Du schaust Dir interessiert Leute und Landschaft an. „Ach Reisen ist doch was tolles! Ist jetzt nicht wahnsinnig gemütlich hier aber hey, das ist Abenteuer, das ist Leben. Ich möchte mit niemandem tauschen. Klasse!“
Level 2
Nach einer Stunde hast Du deine Transportmittel-Kameraden alle gezählt und gemustert. Du kennst die nässenden Beinwunden der alten Frau vor Dir, hast Dir die Lebensgeschichte der allein reisenden Kinder ausgemalt und erschrickst nicht mehr, wenn sich der Sack mit den Krokodilen mal wieder bewegt. Dein Oberarm ist mit dem des Fremden neben dir verschmolzen und aufgrund dieser Intimität kannst Du ihm ja auch mal deine Reisegeschichte erzählen (auch wenn er nur die Hälfte davon versteht). „Is this your husband?“ „Yes, of course.“ Alles andere wäre hier unvorstellbar und nicht angebracht. Ein bisschen tut Dir schon der Hintern weh von diesem Gesitze- vielleicht mal die FlipFlops drunter legen.
Level 3
Dann kommt (meist viel zu früh) der Punkt, an dem der Körper meldet: „Hey- das war ja ganz hübsch aber jetzt ist dann auch genug hier. Leg mich mal mit einem Drink in den Pool und bette mich dann schön auf ein sauberes Hotellaken!“ Der Hintern fängt an zu weinen. Die Isomatte bekommst Du noch drunter- alles andere wird zu eng. Wir halten an. Noch mehr Passagiere? Das kann doch nicht euer Ernst sein, die passen nie im Leben auch noch rein! Doch, sie passen. Ihr seid alle irr!
Level 4
Es folgt ein Zustand des Witzelns. „Haha schau mal, was wir uns hier gerade geben- das glaubt uns doch keiner und außerdem: Mir tut der Arsch weh, alles juckt und die Sonne ist sooo unbarmherzig… hahahahaha! HA!“
Level 5
Wieder zwei Stunden später bekommt das Lachen etwas hysterisches: „Ahahahaha- wir sitzen seit 4 Stunden pausenlos in der knallen Sonne, das arme Kind vor mir hat jetzt schon zweimal spucken müssen und würgt schon wieder verdächtig. Das ist doch alles ein großer Witz hier. Ich lach mich tot! Hahahahaha… und psssst: hatte ich schon erwähnt, dass mir der Arsch etwas schmerzt? Ich weiß, du hast schon 2.846.337,5 Sitzpositionen ausprobiert aber komm schon, die nächste isses bestimmt. Hahaha- WIIIITZZZZIG hier!“
Level 6
Es wird ernst. Schon längst hast Du ein Hassopfer gefunden, das Schuld an allem hat: „Dieses sch**ß Mistkotzkind da vorne hat mir jetzt schon zum 20sten Mal seine doofen Füße gegen meine offene Blase am Fuß gehauen. Ich hasse diesen riesen Ignoranten in Miniformat und wünschte, er würde einfach mitsamt seines Mageninhaltes ins Wasser fallen. Dann wäre meine Welt wieder in Ordnung. Und hatte ich schon erwähnt: MIR TUT DER ARSCH WEH! Irgendwann muss dieses Hinterteil doch einfach mal taub und vor allem stumm werden.“
Level 7
Resignation. Alles vorher wurde nicht laut ausgesprochen. Ich räuspere mich: „Ähm Seb, mein Hintern schmerzt ein wenig, wie isses denn bei Dir so?“ „Volle Pulle- ich versuche abzuschalten aber die Sonne ist auch so heftig…!“ Geteiltes Leid ist halbes Leid… normalerweise. In diesem Fall fühlt sich der Körper mit seinen Meldungen dann vollends bestätigt und meldet vehement die nächste Stunde an einer Tour „Aua, mein Fuß, aua, mein Rücken, aua, das Schlagloch war nicht gut, es ist so arg heiß hier, auaauauauauauaa, vielleicht muss ich jetzt einfach mal pinkeln? Was machste denn dann, hä?! Und- hatte ich es eigentlich schon erwähnt? MIR TUT DER ARSCH WEH. MIRTUTDERARSCHWEHMIRTUTDERARSCHWEHMIR……! Ich bin ein Star – hol mich hier raus verdammt!“
Level 8
Das einzige was dann hilft ist Meditation. Abschalten. Augen schließen. Ruhig werden. Körper ignorieren, alles ignorieren. Geist vom Körper lösen. Schwebezustand. Das geht ganz gut. Da lernt man was für´s Leben. Vielleicht ein bisschen beten. Und ein bisschen träumen: Der Pool und das weiße Hotellaken müssen es schon lang nicht mehr sein. Ein Eimer Süßwasser und eine Parkbank würden auch schon völlig reichen. Ankommen. Einfach durchhalten, überleben und irgendwann ankommen. Ich bin gaaaanz ruhig. Ich bin Buddha. Ooooom.
Level 9
Vielleicht hilft Träumen zu zweit. „Sebastian, für heute Nacht suchen wir uns ein Hotel und dann essen wir schön bevor wir uns einfach nur vor den Fernseher hauen- vielleicht ja sogar mit Klimaanlage, gell?“ Aber Sebastian ist gerade woanders: „Ich will ja jetzt nicht stressen aber ich würde schon gerne noch den nächsten Bus nehmen, um bis nach Schlagmichtot zu kommen.“ Ja, ich will das auch aber das wollte ich jetzt nicht hören. Meine Nase kribbelt. „Bitte, lass mich weinen. Ich möchte weinen!“
Level 10
Das Unfassbare geschieht: Land in Sicht. Endstation erreicht. Und plötzlich ist alles gar nicht mehr so schlimm. Der Einheimische Student hat seinen Oberarm schmatzend von meinem gelöst und uns in sein Dorf eingeladen. Es ist ein Paradies direkt am Strand. Wir bekommen tolles Essen und sitzen zusammen mit den Locals auf dem Boden bevor wir uns müde auf unsere Isomatten unter das Moskitonetz legen und gefühlt auf Wolken schweben. Die Qualen sind nicht vergessen aber vergeben und plötzlich ist es eine gute Geschichte.
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